Mehr als 100 Tage bin ich jetzt in Ghana – beinahe ein Drittel meiner Zeit hier ist schon rum. Ich habe Ferien, Weihnachten ist nur noch ein paar Tage entfernt und das Jahr neigt sich dem Ende. Zeit für ein erstes Fazit. Wo fängt man da am besten an? Beim Essen. Das ist schonmal richtig gut und ich weiß, dass ich es in Berlin vermissen werde. Damit wäre das wichtigste geklärt. Davon abgesehen gibt es diese Momente, in denen mich alles ankotzt: Die Arbeit mit den eigentlich coolen Kollegen und reichen Kindern, die zwar Sicherheit, Routine und daher eigentlich Sorgenfreiheit offeriert, auf der anderen Seite aber auch der Bezeichnung „soziales Projekt“ kaum gerecht wird, da sie ja im Grunde ein Unternehmen und keine NGO ist, Gewinn erwirtschaftet und mir fast all meine Zeit raubt. Das stürzt einen in eine Existenzkrise: „Wozu bin ich hier eigentlich gut?“ Aber nicht nur die Arbeit auch diese Stadt; Accra das Moloch. Während ich schreibe, sitze ich mal wieder im Trotro und genieße seit 1 1/2 Stunden Stop and Go – mit der Aussicht auf noch mindestens eine weitere Stunde – bin eingeklemmt auf meinem Sitz zwischen zwei dicken Frauen „im besten Alter“, die ich leise auf Deutsch murmelnd leidentschaftlich für ihre Körperfülle und ihre Frechheit, sich dann ausgerechnet neben mich zu setzen, verfluche. Ich schwitze, wie meine Nachbarinnen auch, atme die von Abgasen, Staub, Hitze und Feuchtigkeit schwere Luft. Diese Stadt ohne Grünflächen, mit wenigen schönen Häusern, die lieber mit Straßen punktet, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen: Leer dafür nicht asphaltiert, staubig, nach Regen teilweise kaum passierbar und ein Albtraum für die Federung eines jeden Fahrzeugs oder mit schönem Straßenbelag, dafür zu den Stoßzeiten (in manchen Fällen auch einfach immer) verstopft. Der Müll in den offenen Rain Gutters, die in der Hitze fröhlich vor sich hin stinken. Der brennende Plastikmüll und die Schwaden puren Krebs, die man als dessen Produkt einatmet. Die aufdringlichen Verkäufer in Madina, der Sexismus, die arbeitenden Kinder, die Religion! Und zu guter letzt diese merkwürdige Einstellung zur afrikanischen (Entwicklungs-) Politik, die mir schon mehrmals in Gesprächen begegnet ist, die Verschwendung und Korruption als „afrikanische Mentalität“ bezeichnet und afrikanischen Polit-Eliten die Fähigkeit abspricht, für nachhaltige Entwicklung zu sorgen. Das klingt nach einem selbstzerstörerischen, umgekehrten Rassismus, nach einer Art panafrikanischem Selbsthass. Sicher, das sind starke Worte und natürlich darf man das so nicht pauschalisieren, aber solche oder ähnliche Denkmuster begegnen mir immer wieder in Gesprächen sei es mit Kollegen, der Familie oder mit Leuten, die ich auf der Straße treffe. Das heißt also nicht Ghanaer hassen Afrika, sondern zeigt (post-)kolonial-rassistische Denkmuster der Europäer spielen auch hier eine fatale Rolle (das AFS-Vorbereitungsseminar lässt grüßen). Das manifestiert sich auch in Leuten, die rufen: „Ey Obruni!(=Weißer/Nicht-Afrikaner)“, einen dann scherzhaft nach Geld fragen oder dein „Freund“ werden wollen oder einem eine andersartige Sonderbehandlung zu kommen lassen, weil man weiß ist. Bei Kindern ist das noch irgendwie verständlich, weil man ja so offensichtlich anders ist. Bei Erwachsenen hingegen ist jede Form der (positiven) Sonderbehandlung, die über Gastfreundschaft hinaus geht, ziemlich unangebracht und im Grunde nur sehr, sehr traurig. Eine solche Aufwertung eines Weißen ist ja auch immer irgendwie eine Abwertung eines Ghanaers. Dabei gibt es herausragende politische Persönlichkeiten auch in der ghanaischen Geschichte. Als offensichtlichstes Beispiel ist hier natürlich Kwame Nkrumah zu nennen, der Ghana 1957 als erste afrikanische Kolonie in die Unabhängigkeit führte. Im Kwame Nkrumah Memorial Park bekommt man einen kleinen Einblick in seine politischen Überzeugungen. Offensichtlich anti-kolonialistische Einstellung, vom Panafrikanismus beseelt und scheinbar mit Hang zum Sozialismus. Nicht zu vergessen Ex-UN-Generalsekretär Kofi Annan. Eigentlich der Beweis, dass Ghana große Politiker hervorbringen kann. Trotzdem überwiegt bei vielen, die ich bis jetzt gesprochen habe, die Frustration über Korruption und nicht eine politische Aufbruchsstimmung. Aber die ghanaische Demokratie ist noch jung. Das kommt noch. Bestimmt.
Das klingt so, als hätte ich ein richtig beschissenes Jahr. Doch jetzt kommt natürlich das große Aber. Neulich habe ich seit langem mal wieder „Schwarz zu blau“ gehört. Ich rede hier viel über Berlin. Wenn ich an Heimat denke, denke ich an Berlin – nicht so sehr an Deutschland. Hier im Ausland bildet sich eine ganz merkwürdige Heimatverbundenheit heraus. Ich will, dass die Leute, die ich treffe, wissen, wo ich herkomme und wie cool es da ist. In Berlin war ich längst nicht so ein Berlin-Enthusiast wie ich es hier geworden bin. Als Enthusiast neigt man dazu, die Wahrheit ein bisschen zu beschönigen. Das wurde mir klar als ich diesen Song wieder gehört habe. Und mir wurde klar, dass man Berlin nicht liebt, weil es so schön. Man liebt es (auch) für seine Hässlichkeit. Man liebt Steglitz/Friedenau dafür, dass es so langweilig ist in einer krassen Stadt. Man liebt sogar Spandau dafür, dass es so am Arsch der Welt ist. Nun ist Accra Berlin in Sachen Hässlichkeit noch um einiges voraus. Aber es ist lebendig, immer in Bewegung, immer laut. Es ist divers: Shopping Malls und Märkte, auf denen der Fisch in der Äquatorsonne stinkt. Wenn ich also aus dem Trotro steige, von der belebten Hauptstraße auf die ruhigen und staubigen Rough Roads einbiege, ahne ich, dass am Ende dieses Jahres Accra eine weitere Heimat sein wird. Accra ist vielleicht kein optimales Urlaubsziel, aber ich mache ja auch keinen Urlaub. Ich arbeite hier. Ich lebe hier. Ich habe hier das spannendste Jahr meines Lebens, das meine Blickwinkel ändert auf Geschichte, Politik, Umweltschutz, Religion und auf so ziemlich alles andere auch. Zum Glück besteht mein Dasein hier aber nicht nur aus Accra, denn Accra ist noch viel weniger Ghana als Berlin Deutschland ist. So langsam lerne ich auch den Rest Ghanas kennen und klappere die Küste ab. Ich schreibe diese letzten Zeilen am Strand von Cape Coast, einem touristischen Highlight Ghanas, in einer Hängematte am Strand unter Palmen. Die Hängematte schaukelt im Takt der großen Atlantikbrecher. Cape Coast ist ganz anders als Accra. Die Straßen sind gut, die Gebäude mehrstöckig und schon älter. Es gibt eine alte Burg, ein Fort und alte Kirchen. Insgesamt ist Cape Coast, das noch einen schönen Strand zu bieten hat, ein beschauliches Städtchen. Gestern war ich im St. George’s Castle in Elmina (der nachbarstadt), dem ältesten europäischen Bauwerk südlich der Sahara (erbaut 1482), und in der Burg in Cape Coast. Diese eindrucksvollen und merkwürdig verschiedenen Bauwerke spielten Schlüsselrollen im transatlantischen Sklavenhandel und vereinen auf faszinierende und verstörende Weise die Schönheit der Landschaft und der Architektur und die Grausamkeit der Briten, Dänen, Niederländer und Portugiesen, die in diesen Burgen lebten, und ihrer Taten. Beide Besuche waren wirklich bewegend. Der heutige Tag konnte den gestrigen aber noch übertreffen. Noch vor acht (kurz mal aus der African Time ausgebrochen) waren wir am Kakum Nationalpark. In einer kleinen Gruppe konnten wir deshalb als erste heute die größte Tourismusattraktion des Landes erleben. Den Kanopy Walkway. Auf gut 40m Höhe läuft man über 300m auf schwingenden Hängebrücken zwischen den Wipfeln der Regenwaldriesen. Unvergesslich dieser Blick. Die anschließende einstündige Führung durch den Regenwald – wir zwei Berliner sind allein mit einem Guide (2+1=3 quick maths) unterwegs – steht dem Kanopy Walkway allerdings in nichts nach. Als wir aus dem Regenwald zum Besuchercenter zurückkehren lärmen gerade die ersten Touristengruppen zwischen den Baumwipfeln. Schwer vorstellbar, dass diese Leute ein ähnlich intensives Erlebnis haben werden wie wir. Was ist also das Résumé am Ende des alten und am Anfang des neuen Jahres? Es gibt einiges, was ich verändern kann und muss, um dieses Jahr noch sinnvoller und intensiver zu machen aber vieles ist einfach nur gut so wie es ist. Ich bin hier am richtigen Ort. Ach ja und an Julian, Leah, Bruno und all die anderen, die da waren: Niemand braucht Cape Town, wenn man Cape Coast haben kann.
Innenhof Cape Coast Castle
Kerker im Cape Coast Castle. Ein Raum für 200 Sklaven
Fischerboote am Fuß der Burg.
Kanonen überwachen den Strand unserer Unterkunft
Strafzelle in Elmina Castle. Niemand überlebte diesen Raum.
Room of no return. Hier verließen Sklaven die Burg in Elmina. Wer diesen engen Durchgang passierte hatte keine Hoffnung zurückzukehren
Kakum National Park
Der Kanopy Walk
Grün.